Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Die Briefträgerin erhielt eine Postkarte aus Venedig. Grüne Wellen, ein rotweisses Boot, beladen mit Paketen. Grusstext der Freundin: «So wird in Venedig die Post ausgetragen.» Das Herz der Briefträgerin schlug höher. Gleichzeitig fragte sie sich: «Wieso eigentlich?» Sie arbeitete früher im Gastgewerbe. Und im Büro. Nirgends empfand sie ähnlich oder sah andere ähnlich empfinden. Keine Kollegin stellte je einen Bürostuhl im Garten aus, kein Kollege hängte je eine Getränkekarte an die Stubenwand. Anders bei der Post. Ein Kollege läuft noch als Pensionierter in unverkennbarer Postkleidung umher, trotz Logoentfernung Den Hausplatz einer Kollegin schmücken diverse Postaccessoires.
Verkörpern wir einen Mythos?
MYTHOS POST. Haben die Hochgefühle mit der Sinnfrage zu tun? Mit der Idee der Arbeit zum Wohl aller? Aber Hand aufs Herz: Was stellen die Briefträgerinnen und Briefträger heute vor allem zu? Die allseits verhassten Rechnungen, Werbung, Spendengesuche, Gerichts- und Betreibungsurkunden.
Wieso hielt sich das Gefühl so hartnäckig, die Pöstlerinnen und Pöstler seien etwas Besonderes, wieso erhalten sie unterwegs viel Aufmerksamkeit, vom Kleinkind wie vom Grossvater? Verkörpern sie einen Mythos? In der Zeit vor dem Internet hatten sie in der Tat unabdingbare Funktionen. Als «Chumhäbreckmer» bei allen möglichen Alltagsproblemen. Und sie transportierten Botschaften und Dokumente, die anders nicht überbracht werden konnten. Sie waren eine zuverlässige Verbindung der Nutzniessenden mit der Welt.
GELBES BLUT? Die Briefträgerin will bei Gelegenheit auf der Büez in die Runde fragen: «Ist dein Blut gelb? Wenn ja, warum?» Und, wenn’s mal passt, zum Beispiel bei Ghüderleuten und Bahnpersonal nachfragen, ob die Kehrichtabfuhr oder Zugsbegleitung im Ausland bei ihnen ebenfalls eine Aufregung wecke, ja, ein Verwandtschaftsgefühl.
Das Foto aus Venedig zeigt ein Paketboot. Den Paketen gehört die Zukunft, und sie kompensieren den vielbeschworenen Briefmengenrückgang. Bei genauem Hinsehen entdeckt die Briefträgerin eine schwarze Aufschrift am Schiff: «Corriere Espresso dpd» …